"Das ist Wahnsinn, wie das explodiert", sagt Florian Plenge und zeigt auf ein Diagramm. Die hellen Büroräume seines Start-ups in Berlin-Friedrichshain sind leergefegt. Nur vereinzelt sitzen Mitarbeiter an den Rechnern. Normalerweise arbeiten hier 30 Menschen, jetzt sind fast alle im Homeoffice. "Auf den Tag genau kann man sehen, wann der Lockdown im März 2020 in Deutschland begonnen hat." Auf der Seite der Musik-App Skoove habe es plötzlich fast dreimal so viele Klicks gegeben. Die Menschen mussten zu Hause bleiben, hatten Zeit und versuchten, sie zu füllen. Zum Beispiel damit, online Klavier zu lernen.
Klavier lernen über App - wann und wo man möchte
Die Lern-App Skoove gibt es seit 2014. Sie will einen einfachen Zugang zum Klavierspielen bieten. Die Menschen sollen das spielen können, was sie wollen - Popsongs, aber auch Klassik. Das Wichtigste: Es soll Spaß machen.
"Es geht sofort los damit, dass man eine bekannte, populäre Melodie lernt, und wir packen dann das ganze harte Wissen, das man ja auch braucht - on the Go - mit rein. Ohne dass der Nutzer es so richtig bewusst merkt, lernt er dann auch Notenlesen, Gehörbildung - alles, was man braucht, um ein Instrument gut zu spielen." Denn es gehe den Machern von Skoove darum, schnell zu dem Moment zu kommen, der die Menschen am meisten berühre. "Das ist, wenn sie selbst spielen. Wenn sie im Prinzip ihre Augen zumachen."
Klavier lernen, wann und wo man möchte - und das für einen günstigen Preis: Das sei der große Vorteil gegenüber dem herkömmlichen Instrumentalunterricht. Feedback gibt es trotzdem, auch ohne Lehrer. Die App erkennt, ob ein Ton richtig gespielt oder lang genug gehalten wurde, und korrigiert sofort.
50 Prozent Zuwachs bei Bildungs-Apps
Bei den Musik-Lern-Apps, die trotz Spaß an der Sache die Didaktik in den Vordergrund stellen - und nicht nur zum "gamifizierten" Zeitvertreib gedacht sind - sei Skoove unter den Top Fünf weltweit. Der Unterricht wird in acht Sprachen angeboten; Nutzer sitzen unter anderem in Großbritannien, den USA und Japan.
Grundsätzlich sei man in diesem Bereich spät dran, wenn man Musik-Lern-Apps zum Beispiel mit Lern-Apps für Sprachen vergleiche. Das ändere sich jetzt rasant. Man hole auf. Aber natürlich habe Corona grundsätzlich eine enorme Beschleunigung gebracht. Die Deutschen verbrachten im zweiten Quartal 2020 45 Prozent mehr Zeit mit Lern-Apps als noch Ende 2019, sagt die Markforschungsfirma App Annies.
Gemeinsam online Musizieren
Auch bei Plattformen für den musikalischen Austausch habe das Interesse während der Corona-Pandemie enorm zugenommen. Ob Instrumentalunterricht oder die gemeinsame Probe online: Die Musikwelt habe sich komplett umstellen müssen, sagt Matthias Krebs von der Forschungsstelle Appmusik am Berlin Career College der Universität der Künste. Plattformen dafür gebe es schon seit 2010, aber das Interesse sei kaum da gewesen, zum Teil seien sie wieder eingestellt worden. Auch die Möglichkeiten, eine gemeinsame Onlineprobe zu optimieren, indem zum Beispiel der störende Zeitversatz minimiert wird, gibt es schon länger. Nur die Nachfrage war nicht da.
Erst durch Corona gebe es jetzt plötzlich eine riesige Community und dadurch einen riesigen Bedarf. "Für mich als Wissenschaftler ist das Interessante: Wie lösen die Menschen die Probleme bei der Nutzung dieser Plattformen, welche Strategien entwickeln sie?" Durch Feedback, Austausch und auch durch mehr Kompetenz bei den Nutzern habe eine entscheidende Weiterentwicklung stattgefunden.
Noch Anfang 2020 habe man nicht ernsthaft über Distanzunterricht oder -proben für Musikschulen gesprochen. "Allen sei damals klar gewesen, das geht nicht", sagt Krebs, der auch den Verband deutscher Musikschulen bei der Digitalisierung berät. "Jetzt machen das selbst Seniorenchöre, die Schwelle ist wahnsinnig niedrig mittlerweile." Zum Teil seien die Musikschulen sehr innovativ, das sei aber von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich.
Das Tablet oder Handy als Instrument
Die Niedrigschwelligkeit freut den Wissenschaftler; sie steht auch bei seinem eigentlichen Forschungsschwerpunkt im Mittelpunkt: Apps, die aus Handys und Tablets Musikinstrumente machen. Krebs hält ein Tablet in die Höhe, darauf verteilt sind Punkte und Farbquadrate. Er berührt sie, ein Orchester erklingt. Dann wechselt er zu einer anderen App. "Was spielen wir denn heute mal? Ach, ich nehme die Oboe. Oder nein, ich stelle doch lieber auf E-Gitarre", sagt er und spielt los.
Die ganze Welt der Musik innerhalb von Sekunden - das sei das Tolle: Die Möglichkeit, ohne musikalische Vorbildung Töne zu erzeugen und dann zu merken: "Das mache ja ich, das klingt nach Musik". All das könne man dann auch mit Vokabeln beschreiben wie Terz und Dominante - müsse man aber eben nicht.
Mit seinem DigiEnsemble Berlin steht der klassische Opernsänger Matthias Krebs weltweit auf der Bühne - die Profimusiker alle mit Tablets in der Hand. "Die Frage, die wir uns stellen, ist: Kriegen wir es hin zu grooven? Kriegen wir das hin, eine spannende Interpretation von Bach zu machen, bei der das Publikum sagt, das ist stimmig?"
Veränderte Wahrnehmung durch Technologie
Es ist ein Experiment, das darum kreist, wie Technologie unsere Wahrnehmung verändert. Dabei ist Krebs wichtig: "Die beste Flöte bleibt die Flöte." Es gehe nicht darum, herkömmliche Instrumente zu ersetzen; die Musik mit Apps und digitalen Geräten sei einfach etwas anderes.
Ähnliches sagt auch Florian Plenge über seine Klavier-Lern-App Skoove: "Wir können Musiklehrer und -lehrerinnen nicht komplett ersetzten. Die Feinheit der Interaktion, die Feinheit des Feedbacks, die eine echte Lehrerin geben kann, die können wir mit der App - zumindest in den nächsten Jahren - nicht erreichen. Ich finde es eher spannend, mit Musiklehrern zusammenzuarbeiten."
Denn da ist sich Plenge sicher: Nach der Pandemie würden die Menschen zwar wieder zum Klavierlehrer gehen. Doch er glaubt nicht, dass sie deswegen aufhören werden, mit Skoove zu lernen.
Quelle: tagesschau.de